Das einzige, was ich sehen konnte, war sie, wie sie vor meinem inneren Auge noch lebte, lachte und ihr Leben lebte.
Ihr wunderschönes, rabenschwarzes Haar lag wie ein unheilvoller Schleier auf ihrer Brust. Ihre blassen Hände waren auf ihrem Bauch gefaltet. Selbst im Tod war sie hübscher, als ich je seien werde. Mit Tränen in den Augen dachte ich an einen der vielen Abende zurück, die wir zu zweit in meinem Zimmer verbracht haben. Wie so oft in letzter Zeit, in der Zeit nach ihrer Abwesenheit. Sie saß vor mir, ihr dunkles Haarkleid hing ihr seiden über die Schultern und ich bürstete sie gerade mit dem goldenen Kamm, den sie von ihrer Großmutter geerbt bekommen hat. Kurz hatte ich innegehalten, um den Kontrast zu bewundern, der sich durch das strahlende Gold und ihren Haaren ergab. „Ich wäre auch gerne so schön wie du“, hatte ich nur leise gewispert. Etwas, dass ich mir sehr oft gedacht hatte, aber nie laut ausgesprochen hatte. Doch an diesem Tag sagte ich es laut und nicht leise genug für ihr gutes Gehör. Und auch wenn ich es nie gesagt hatte, sie wusste einfach, dass ich diesen Satz nicht zum ersten Mal gedacht hatte. Also drehte sie sich um, legte meine Hände sanft in ihre kalten und sah mir mit ihren eisblauen Augen fest in meine. „Sag sowas nie wieder, Holly, hörst du mich? Du bist selbst wunderschön, du merkst es nur nicht“, hatte sie mit ihrer sanften Stimme behauptet. Wenn sie mich jetzt sehen würde, würde sie das niemals behaupten. Aber das war eine Lüge. Ellie war ein so guter Mensch im Gegensatz zu mir, sie würde mich nur tröstend in ihre Arme nehmen und genau das richtige sagen und nicht ein Wort über meine rotgeschwollenen Augen verlieren. Ich war einfach ein Niemand ohne sie.
Zwar hatte ich mich neben ihr immer wie eine hässliche Ente neben einem wunderschönen Schwan gefühlt, aber immerhin hatte ich
irgendetwas gefühlt. Hatte mich wie Jemand gefühlt, ich war lebendig gewesen. Mein Herz verkrampfte sich, kämpfte schmerzhaft gegen den Druck an, der von Sekunde zu Sekunde einfach nur noch größer wurde. Wie in einem Raum, in dem die Wände immer näher auf dich zukommen und du weißt, dass du gleich keine Luft mehr zum Atmen hast.
„Ich kann nicht ohne dich, es geht einfach nicht“, brach es einfach aus mir heraus und ich schluchzte leise vor mich hin. Sie war doch da, so dicht vor mir. Das Bedürfnis meine Hand auszustrecken und ein letztes Mal eine ihrer Haarsträhnen zwischen meinen Fingern zu fühlen war so real. Bevor ich jedoch irgendetwas falsches oder dummes anstellen konnte, drängte mich jemand von hinten weiter. Peinlich berührt stellte ich fest, dass ich wohl ziemlich lange vor dem offenen Sarg gestanden hatte, ohne mich zu bewegen. Um den Leuten nach mir auch noch einmal eine letzte Chance zu lassen, einen Blick auf Ellies sanfte Züge zu werfen, lief ich mit hängenden Schultern durch die Kirche und setzte mich auf eine Bank in der letzten Reihe. Zugegeben, es war keine besonders große Kirche und zu dem waren zu der Beerdigung nicht sehr viele Leute erschienen, aber ich hatte mich schon immer unwohl unter vielen Menschen gefühlt. Besonders unter jenen, die ich nicht kannte oder denen ich nicht vertraute. Dabei gab es eigentlich nur drei Personen auf dieser Welt, denen ich vertraute. Meiner Mutter, meiner kleinen Schwester und Ellie. Ellie, meine beste Freundin. Meine andere Hälfte, (und auch wenn ich diesen Satz immer kitschig gefunden hatte, es stimmte einfach) meiner besseren Hälfte. Ohne sie war ich einfach nur noch der schwache, missmutige und leise Teil meiner Selbst.
Warum musste auch gerade sie sterben und nicht ich? Verdammt noch mal, sie war so ein toller Mensch gewesen, hatte sich für mich, die Unbeliebte und Komische entschieden anstatt für ein Leben bei den Reichen und Schönen. Wie in diesen ganzen Büchern, in denen sich die Hübsche und Beliebte sich auf einmal für den Loser der Schule interessiert. So war sie einfach gewesen, nur ganz ohne irgendwelche Hintergedanken. Sie hatte mich eigentlich nicht ausgesucht, wir hatten einfach sofort zueinander gepasst. Sie war die perfekte Hauptfigur eines wunderbaren Liebesromans mit Happy End. Und da befand ich mich wohl gerade – an diesem Moment, der eigentlich das Happy End warten sollte. Stattdessen war hier wohl einfach etwas gewaltig schiefgelaufen.
Die lauten Klänge der Orgel, die die kleine Kirche voll erfühlten, rissen mich unsanft aus meinen trübseligen Gedanken. Es war eine auf traurig melancholische Weise schöne Melodie, die sich sofort in mein Gedächtnis prägte. Ich sah den Musiker nicht, aber wünschte, ich könnte den Gesichtsausdruck von ihm sehen, den er hatte, während er ein solch trauriges Lied für den Tod einer fremden Person spielte. Ob er wohl auch traurig über Ellies Tod war, auch wenn er sie vermutlich gar nicht kannte? Immerhin wurde in den Nachrichten immer wochenlang über wildfremde Personen getrauert. Aber wenn hier, in einem kleinen Dorf irgendwo im Nirgendwo, ein junges Leben viel zu früh zu Ende ging…, wenn interessierte das?
Der Pfarrer begrüßte die Leute in der Kirche mit seiner tiefen, einfühlsamen Stimme zu diesem bitteren Anlass in der Kirche. Mussten sich Pfarrer eigentlich irgendeiner Prüfung unterziehen, in der nur solche angenommen wurden, die eine kirchentaugliche Stimme hatten? Das unterschwellige Brummen in seiner Stimme, musste einfach wie ein Fels in der Brandung für jeden sein, der sie hörte. „Wir haben uns heute hier zusammengefunden, Familie wie Freunde, um Elisa O’Connor auf ihrer letzten Reise zu begleiten. Sie ging leider viel zu früh von uns in einem Alter von gerade einmal 18 Jahren.“ Tränen flossen, ohne dass ich sie hätte zurückhalten können. Es war nichts Besonderes, was der Pfarrer dort sprach, nicht einmal etwas Ergreifendes. Aber allein die Tatsache diese Worte einmal laut ausgesprochen zu hören, machte es so viel realer.
Was wäre der Tod denn an sich Schlimmes, wenn es nicht so viel mit sich bringen würde? Nie wieder würde ich mit Elisa lachen können. Nie wieder würde ich ihre Stimme hören. Nie wieder würde ich sie sehen können. Nie wieder. Niemals, nicht ein einziges Mal in meinem zukünftigen Leben. Es war vorbei. Für immer. Eigentlich amüsant, dass man die zwei gegengesetzten Wörter „für immer“ und „nie wieder“ sagen kann und sie einem Beide das Herz brechen. Weil sie Beide in diesem Zusammenhang etwas Endgültiges an sich haben. Es war wie ein Siegel, dass zwar einen klaren Schnitt, ein festes Ende bedeutete, aber das Ganze wurde dadurch erst existent, sich diesen klaren Schnitt vor Augen zu führen. Ein Tropfen nach dem anderen traf auf meine Hand und floss schnell weiter. Unfähig, meine Tränen wegzuwischen, sah ich zu, wie sie sich alle auf meiner Handfläche ansammelten und ihren Weg fortsetzten während ein leiser Schluchzer nach dem anderen meinem Mund entfuhr. Ich presste meine Hand fest gegen meinen Mund und versuchte die Geräusche zu unterdrücken. Aber das einzige, was ich wirklich spürte, war das Brennen der Tränen, welches sich überall auf meiner Hand ausbreitete. Mein Atem ging warm und hektisch ein und aus und wärmte meine Handfläche und dennoch fühlte ich nur die Kälte, die Gänsehaut auf meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich fühlte mich in diesem Moment so klein, nutzlos und ungeliebt, dass ich mir nichts mehr wünschte, als eine Person, die sich zu mir setzen würde und meine Schultern umarmte. Ein Mensch, der mich sicher und geborgen an seinen Körper presste und einfach nichts sagte. Aber das passierte nicht. Nie passiert das, was man sich wünscht. Sonst würde ich nicht hier sondern mit Ellie in meinem Zimmer setzen. Das Leben war so verdammt unfair. Wozu existieren wir überhaupt, wenn alles zum Scheitern verurteilt waren? Wenn sogar die Guten starben, was blieb dann überhaupt übrig?
„Sei mutig und stark! Fürchte dich also nicht, und hab keine Angst; denn der allmächtige Gott, begleitet dich, wohin dein Weg auch führt“, drang plötzlich die Stimme des Pfarrers durch meine Gedanken. Das war wohl der Psalm, den sich die O’Connor Familie für die Beerdigung ausgesucht hatte. Ha, dass ich nicht lache. Ellie war der mutigste und stärkste Mensch gewesen, den ich je gesehen hatte und wohin hatte ihr Weg sie geführt? Sie war viel zu jung gestorben, ohne je wirklich gelebt zu haben. Wir wollten doch noch so viel tun. Zusammen an die gleiche Uni gehen und studieren. Danach nach Island und die Nordlichter sehen. Mir wäre es sogar lieb, all diese Dinge nicht zu tun, dafür einfach noch einen Abend mit ihr über die süßen Jungs des Jahrgangs reden oder zu bestimmen, welches Mädchen mit wem innerhalb des nächsten Jahres zusammenkommen würde. Zeug, das ich eigentlich immer gehasst hatte, aber für sie immer beredet hatte. Ellie meinte immer, beste Freundinnen müssten einfach auch mal über sowas reden und nicht immer nur über das beste Buch oder den neuesten Comic. Und ich fand es gut, dass sie mich auch mal aus meiner Komfortzone herausholte. Sie war die Einzige, bei der ich Sicherheit gefühlt hatte, auch wenn ich etwas komplett anderes tat, als ich sonst tuen würde.
[Sie müssen registriert oder eingeloggt sein, um das Bild sehen zu können.]Der Pfarrer hatte noch eine lange Rede über Leben, Tod, Mut und Vergebung gehalten, hauptsächlich irgendein unpersönliches Zeug, das nichts mit Ellie zutun hatte. Konnten Beerdigungen nicht einfach von den Leuten abgehalten werden, die die Person wirklich kannten? Aber dann verdrängte ich den Gedanken sofort wieder und schluckte schwer. Als ob ich mich jemals getraut hätte, vor all diesen Menschen über Ellie zu reden – den besten Menschen der Welt. Denn ich war wohl oder übel Diejenige, die sie am besten gekannt hatte. Ellie hatte nicht wirklich eine Familie gehabt. Ihr Vater war Säufer, ihre Mutter vor Jahren schon verschwunden und ihr großer Bruder hatte nichts Besseres zu tun, als sie den lieben langen Tag runterzumachen. Und trotz ihrer Schönheit und ihrer einzigartig wundervollen Art hatte sie außer mir nie wirklich Freunde gehabt – zumindest keine, von denen ich wusste.
Am Ende der Beerdigung wurde der schwarze Deckel ihres Ebenholz Sarges geschlossen und der Anblick auf ihr Gesicht wurde uns allen für immer versperrt. Da war es wieder. Für immer versperrt. Nie wieder würden wir es sehen. So sollte unser Leben von fortan sein. Sie dort unten, unter Tonnen von Erde begraben, mit dem Blick auf den blutroten Samt des Sarginnendeckels. Wobei Blick relativ war, bei den geschlossenen Augen eines toten Menschen. Aber ich konnte weitersehen. Denn ich war nun die Lebendige, ich hatte nun weiter die Chance auf ein langes, erfülltes Leben. Auch hier ist „erfüllt“ wieder nur relativ, wenn man bedachte, dass ich nun ohne sie weiterleben musste. Das einzige, was ich momentan allerdings sah, war ihr Vater, der ein Taschentuch an seine leichtgeröteten Augen presste und von jedem Teilnehmer der Beerdigung umarmt wurde. Ich stand unter einer Weide unweit des Friedhofes und betrachtete die Leute, die da gewesen waren und mit hängenden Schultern das Gelände verließen. Wie sie kurz bei den O’Connors anhielten, sie an sich drückten, ihr Mitleid aussprachen und warteten, bis das Nicken der Person, die sie umarmten, sie wieder entließ. Heuchler. Sie alle hatten Ellie doch gar nicht richtig gekannt.
Und du? Sie hat die letzten Jahre in einer anderen Schule verbracht und du hast nie mit ihr über Schule geredet, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf. Und so ungern ich auf sie hören würde, irgendwo hatte sie doch recht. Was hatte mir Ellie vielleicht verschwiegen, was jetzt ans Tageslicht kommen würde?
Nichts. Wenn etwas gewesen wäre, hätte sie es mir gesagt, redete ich mir ein. Aber ob das wohl so stimmte? Kopfschüttelnd trat ich aus dem Schatten der Weide, als würde ich damit die Zweifel loswerden können. Aber lieber hätte ich mich meinen Zweifeln hingegeben, als dem gegenüber zu stehen, dass sich jetzt ergab. Leon O’Connor, Elisas Bruder, sah mich und lief mit schnellen Schritten auf mich zu. Er sah gut aus, er war einer dieser
Menschen denen Trauer gutstand. Nun ja, wohl eher geheuchelte Trauer, angesichts dem, wie er Holly behandelt hatte. Seine blauen Augen leuchteten mir förmlich entgegen, sie waren Ellies so ähnlich, was alles nur schmerzhafter machte. Je näher er kam, desto mehr verkrampfte ich mich. Anstatt ihm entgegen zu kommen, stand ich steif auf einer Stelle und versuchte meinen Atem ruhig zuhalten. „Hallo Holly“, sprach er mit rauchiger Stimme als er in Hörweite war. „Hallo Leon“, krächzte ich heiser zurück. Erschrocken stelle ich fest, wie furchtbar gebrechlich meine Stimme klang, nachdem ich sie nun seit Tagen nicht mehr wirklich benutzt hatte. Warum sollte ich denn noch reden? Das hatte doch alles keinen Sinn mehr. Schnell blinzelte ich, um die Tränen zurück zu halten, die sich in meinen Augen bildeten, doch die ersten Tränen flossen bereits meine Backen hinunter. Irgendwie seltsam, wie man innerhalb von wenigen Tagen so oft weinen kann, dass einem kaum noch auffällt, wenn man es ein weiteres Mal tut.
Ich werde nicht vor Leon heulen, redete eine Stimme in meinem Kopf wütend auf mich ein und ich wischte mir hektisch die Tränen aus dem Gesicht. „Was gibt’s?“, sagte ich kalt und war beeindruckt, wie meine Stimme sich nach vier Wörtern schon wieder viel normaler anhörte. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich nicht das miese Arschloch Leon O’Connor vor mir. Ich sah einen gebrochenen Jungen, einen großen Bruder, der seine kleine Schwester verloren hat. „Verdammt, Holly, ich hab‘ so viel Scheiße gebaut und es tut mir so leid, wenn ich doch nur noch einmal mit ihr reden könnte…“ Seine Stimme brach und laute Schluchzer entkamen seiner Kehle. Komplett überfordert mit der Situation stotterte ich vor mich hin. „He-hey, Leon, a-alles wird gut“, stammelte ich leise vor mich hin. Was, wenn ich mich geirrt hatte? Vielleicht war ihm Ellie nicht egal gewesen. Auch wenn mein ganzer Körper sich dagegen verkrampfte, überwand ich mich und trat den letzten Schritt, der Leon und mich trennte und – umarmte ihn. „Meine kleine Schwester ist tot. Meine Schwester – sie ist einfach nicht mehr da“, jammerte er in mein Ohr. Mein Herz brach angesichts seiner gebrochenen Stimme. Auch wenn ich ihn nie hatte leiden können, er war irgendwie immer stark gewesen. Und früher hatte er Ellie immer vor sämtlichen Bösen beschützt. Ich erinnerte mich an einen Tag in der Grundschule, Ellie und ich waren noch nicht lange Erstklässler gewesen, da hatte sich ein älterer Junge total vor Ellie aufgespielt und als sie nicht auf ihn eingegangen ist, hat er sie von hinten von dem Klettergerüst auf dem Pausenhof geschubst. Ellie hatte sich darauf hin den Arm gebrochen, der Junge hatte kaum Ärger bekommen, da seine Mutter sich dafür eingesetzt hatte, dass es ja nicht seine Schuld gewesen wäre und Ellie nur ungünstig gestolpert war und es auf den Nächstbesten geschoben hatte. Daraufhin war der kleine Leon mit seinen zehn Jahren in die Schule spaziert, hatte den Jungen am Kragen gepackt und gesagt, wenn er sich nur noch einmal trauen würde, Ellie auch nur ein Haar zu krümmen, dann würde er kommen. Damals war ich vielleicht ein klein wenig in den Helden mit den braunen Löckchen verknallt, wie es Kinder in dem Alter nun mal gerne waren. Okay, vielleicht hatte das Ganze auch bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr angehalten – dem Jahr, in dem Leon sich verändert hatte. Dem Jahr, in dem seine und Ellies Mutter die Familie verlassen hat. Leon hatte seine Mutter immer bewundert und über alles geliebt. Und ich glaube, eigentlich kann ihm niemand verübeln, dass er zu der Person wurde, die Ellie nicht mehr wie seine kleine Prinzessin behandelte. Immerhin hatte er nun auch niemanden mehr, der ihn wie einen Prinzen behandelte. Aber jetzt war niemand mehr für ihn da. Und irgendwie bekam ich dadurch ein Zugehörigkeit Gefühl, bekam das Bedürfnis, mich um ihn zu kümmern. Wir trugen doch beide den gleichen Schmerz mit uns herum. Konnten wir ihn dann nicht teilen?
Leon trat zurück und sah verlegen auf den Boden. „Wie gesagt… es tut mir leid, Holly. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen“, meinte er dann mit einem schiefen Grinsen zu mir. Ein sehr gequältes, aber irgendwo war es ein Anfang für uns Beide. „Schon geschehen“, zwang ich mich zu sagen. Ich wusste nicht, ob es stimmte, aber es fühlte sich einfach richtig an, ihm das zu sagen. Ich konnte wohl kaum einem Jungen etwas aus der Vergangenheit vorhalten, nachdem seine geliebte Schwester verstorben war und er niemanden mehr hatte, außer einem alkoholabhängigen Vater. „Danke“, wisperte er daraufhin nur leise, drehte sich um und ging zurück zu dem Rest der O’Connors. Ich schluckte schwer und machte mich selbst auf den Weg raus aus dem Friedhofgelände. Als ich den Schutz der Weide verließ, fühlte ich mich bloßgestellt vor dem Rest der Trauergemeinschaft. Also lief ich schneller und ging mit großen Schritten Richtung Tor. Gerade als ich meine Hand auf den eisernen Griff legte, tippte mich von hinten eine Hand an. Mit zusammengepressten Augen drehte ich mich steif um und noch bevor ich meine Augen öffnete wusste ich, wer dort mit mir sprechen wollte. Und ich war wirklich nicht dazu in der Laune, mit dieser Person zu reden. Ich war noch nicht bereit dazu. Wer weiß, ob ich es jemals war. Aber definitiv nicht jetzt, nicht nach dem aufwühlenden Gespräch mit Leon. Dennoch blickten mich jetzt ein Paar grüne Augen mit goldenen Sprenkeln an und mein Herz schlug schneller. „Mein Beileid, Holly, es muss wirklich furchtbar sein, die beste Freundin zu verlieren“, sagte Luis mitfühlend. Luis. Der Luis, der nach Leon mein Herz gestohlen hatte. Obwohl er doch einfach nur einer von diesen Standart-Jungen war. Zumindest redete ich mir das immer ein.
Aber beweist nicht die Tatsache, dass er noch hier ist nicht alles?, sagte die kleine böse Stimme in meinem Kopf.
Ein tiefes Räuspern ertönte von irgendwo her und das Bild von Luis verblasste. Schockiert stolperte ich ein paar Schritte zurück. Keine Spur von Luis, keine Spur davon, dass dieses Gespräch eben stattgefunden hatte. Vollkommen verwirrt blinzelte ich. „Luis?“, fragte ich geistig verwirrt. Aber statt ihm sah ich in Mr O’Connors Gesicht, der mich mit zusammengezogenen Augenbrauen schief anschaute. Was zur Hölle war hier los?! Luis war nicht einmal auf der Beerdigung gewesen, er kannte Ellie nicht. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken, als ich Mr O’Connor ignorierte und stattdessen mit meinem Blick nach Leon suchte. War dieses Gespräch real gewesen? Aber dem ertappten Blick nach zu urteilen, den er mir zuwarf, als ich Blickkontakt zu ihm aufnahm nach, musste es einfach wahr gewesen sein. „Holly?“, brachte mich Ellies Vater zurück ins Hier und Jetzt. „Ja?“, brachte ich völlig verwirrt hervor.
Reiß dich zusammen, du drehst ja vollkommen ab, meinte eine Stimme zu mir, die allerdings ganz anders klang, als die von vorhin. Diese Stimme jetzt erinnerte mich sehr an Ellies und unwillkürlich zog sich mein Herz wieder zusammen. Wie viele Gefühlsschwankungen konnte ein Mensch eigentlich ertragen, ohne, dass es ungesund wurde?
„Ich wollte dich fragen, ob du es geahnt hast“, fragte mich Mr O’Connor ohne Vorwarnung. Noch mehr verwirrt als ich ohnehin schon war, starrte ich ihn recht dümmlich dreinblickend an. „Was geahnt?“ Wieder zog er seine Augenbrauen zusammen. In was für einem Film war ich denn bitte gefangen? „Weißt du, wie Elisa gestorben ist?“, fragte er darauf plump. Ich schluckte schwer, konnte die Worte „gestorben“ und ihren Namen nicht in einem Satz ertragen. „Wegen ihres Herzfehlers“, presste ich gezwungen hervor. Jeden Satz, den ich zu ihrem Tod laut aussprach, machte es ein Stückchen realer. Und das wollte ich nicht. Es sollte nicht real sein. „Sie hat ihre Medikamente nicht genommen. Sie hat sie in einer Schachtel unter ihrem Bett versteckt. Das führte letztendlich zum Tod“, meinte Ellies Vater ganz beiläufig mit Blick gen Horizont. Er sagte es so locker, so leicht. Aber mir blieb in dieser Sekunde das Herz stehen. Es setzte für einen Schlag ganz aus, bevor es holprig wieder zu Schlagen anfing. „Was?!“, war daher auch das einzige, was ich keuchend hervorbringen konnte. Meine beste Freundin war nicht einfach tot, sie hatte sich selbst umgebracht. Egal was für ein kranker Film das war, es sollte einfach jetzt zu Ende sein, am besten mit Happy End. Aber irgendein Gefühl in mir sagte mir, dass dies erst der Anfang sei.